Rohmilch: Keimschleuder oder Superfood ?
[ 24. 12. 2021 - Lesedauer ca. 6 Min. ]
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Milchtankstellen sprießen momentan gefühlt in jedem Örtchen mit Milchviehhaltern aus dem Boden. 24/7 hat man so die Gelegenheit frische Milch direkt vom Bauern zu kaufen. Betrachtet man die Aushänge an den Automaten stolpert man über den Hinweis „ Rohmilch vor dem Verzehr abkochen“. Ja was denn nun? Ist Rohmilch doch nicht so gesund oder woher kommt der Grund dieses Hinweises?
In den 1930 er Jahren gab es Tuberkuloseausbrüche. (1) Ein Übertragungsweg lag damals leider im Verzehr von rohem Fleisch und Milch. (2) Die Pasteurisierung war längst erfunden und so begann der Siegeszug der pasteurisierten Milch.
Schaut man in die Tier-Lebensmittelhygieneverordnung wird man verwundert lesen, dass hier grundsätzlich erst mal ein Verbot der Abgabe von Rohmilch und Rohrahm an den Verbraucher an der Tagesordnung ist. Aber glücklicherweise gibt es Ausnahmen.
Zum einen die nicht sehr verbreitete Vorzugsmilch. Bei uns gibt es wirklich gut sortierte Supermärkte, aber Vorzugsmilch habe ich dort noch nie gesehen.
Kurz zur Erklärung: Vorzugsmilch, also Rohmilch, darf nur von genehmigten und streng kontrollierten Betrieben über z.B. Supermärkte verkauft werden. Zudem ist sie binnen 96 Stunden ab Gewinnung zu verbrauchen. Der große Aufwand und die kurze Verbrauchsspanne erklären vielleicht, weshalb die Vorzugsmilch sich hier nie wirklich durchgesetzt hat.
Zum anderen dürfen Milcherzeugnis-Betriebe Rohmilch direkt, unter ein paar Voraussetzungen, an den Verbraucher abgeben. Selbstverständlich muss der Landwirt die Abgabe von Rohmilch der zuständigen Behörde anzeigen. Außerdem muss die Milch am Tag der Abgabe oder am Tag zuvor gewonnen worden sein. Der Landwirt darf die Rohmilch nur „ab Hof“, also am Milcherzeugnis-Betrieb selbst verkaufen. Und an der Abgabestelle, also meist dem Milchautomat, muss der oben genannte Hinweis „Rohmilch vor dem Verzehr abkochen“ angebracht sein. Der Landwirt ist also lediglich vom Gesetz aus verpflichtet diesen Hinweis anzubringen.
Landwirte die Milchtankstellen betreiben und somit meist Rohmilch anbieten, gelingt es durch ein gutes Hygienemanagement von der Tiergesundheit angefangen, über das Melken, die Melkausrüstung, Leitungen durch die die Milch nicht unerhebliche Strecken fließt, bis hin zum Lagertank mit Kühlung, durch ein bewusstes Augenmerk auf Hygiene, qualitativ gute Rohmilch zu erzeugen. In der gesamten EU gab es so beispielsweise zwischen 2007 bis 2012 gerade einmal 27 dokumentierte Ausbrüche von durch Milch übertragenen Krankheiten, die in Verbindung mit dem Verzehr von Rohmilch gebracht werden konnten. (3) Mit einem Augenzwinkern betrachtet sieht ein amerikanischer Tierarzt das Risiko des Rohmilchkonsums als viel geringer, als jede Woche mit seinem Auto die Rohmilch vom Hof abholen zu müssen. (4) Ich finde das sagt schon viel aus.
Wer der Rohmilch noch nicht so ganz traut, hat noch die Möglichkeit sich über Keimzahlen und Zellzahlen schlau zu machen, also seinen Landwirt direkt darauf anzusprechen. Der Landwirt selbst ist verpflichtet diese Untersuchungen durchzuführen. Er weiß also über diese Merkmale seiner Milch bescheid und sollte meines Erachtens das auch frei kommunizieren.
Die angesprochene Keimzahl zeigt die bakteriologische Beschaffenheit der Milch auf (5). In Kuh-Rohmilch liegt der Grenzwert bei < 100.000/ml. (6) . Das mag sich viel anhören. Zu bedenken ist aber, dass die Milch schon beim Verlassen des Euters durch den Strichkanal, über die Zitzenhaut Bakterien mit sich bringt. Rechnet man dann die der Stallluft, des Trinkwassers, der Melkgerätschaften usw. hinzu, kommt man schnell auf eine gute Summe. (7). Trotzdem wird sich die Keimzahl bei guter Hygiene eher im 4-5 stelligen Bereich bewegen.
Die Zellzahl gilt als Bewertungskriterium für die Eutergesundheit der Rohmilch liefernden Kühe. Hier werden einfach gesagt körpereigene Zellen in der Milch, z.B. weiße Blutkörperchen bestimmt. Übersteigt die Zellzahl 100.000 Zellen/ml ist dies zwar noch unproblematisch, kann aber auf eine subklinische Mastitis hinweisen. Darüber hinaus, Richtung 400.000 Zellen/ml weist dies schon auf eine mangelnde Eutergesundheit hin (8) (9).
Aber ich möchte nicht nur auf die Risiken hinweisen, sondern auch die guten Eigenschaften der Rohmilch einmal beleuchten. Frische Rohmilch kommt mit einem unveränderten Paket aus Mineralstoffen, unveränderten Enzymen und einer bestehenden System guter Milchsäurebakterien ans Tageslicht. Unbehandelt hat die sogenannte Rohmilch-Flora eine gewisse Fremdkeim hemmende Funktion. Auch kommt vielen Menschen die bis hierher nicht denaturierten Proteinen zu Gute. „Mein“ Landwirt hat mir schon oft berichtet, dass Kunden seine Rohmilch gut vertragen, obwohl sie Probleme mit der behandelten Milch aus dem Supermarkt haben. Aber woran kann das liegen?
Zunächst ist einmal zu klären was Rohmilch ist. Sie ist nämlich das unveränderte Gemelk von Nutztieren, das nicht über 40 °C erhitzt und keiner Behandlung mit ähnlicher Wirkung unterzogen wurde. Wärmebehandelte Milch kann mehreren Verfahren unterzogen werden.
Dauererhitzung = 62-65 °C, Heißhaltezeit 30-32 Minuten
Kurzzeiterhitzung = 72-75 °C, Heißhaltezeit 15-30 Sekunden
Hocherhitzung = 85-127 °C (Peroxidase Nachweis negativ)
Ultrahocherhitzung = mindestens 135 °C
Sterilisierung = mindestens 110 °C
Kochen = wiederholt aufkochen
Frischmilch = 72-76 °C , 20 Sekunden
ESL Milch = Extendet Shelf Live Milk = Frischmilch mit verlängerter Haltbarkeit durch Kurzzeiterhitzung und Filtration. Ein verbreitetes Verfahren ist eine Hocherhiztung auf 127 °C. Die Firma GEA hat ein weiteres Verfahren entwickelt ("Prolong"), wobei unerwünschte Sporen durch zwei Bactofugen entfernt werden können.16
Nicht nur die schlechten Keime die in der Milch sein können bekommen bei allen Wärmebehandlungsmethoden ordentlich eins auf die Mütze. Das sich dabei aber auch die gute Keimflora der Milch verändert und Enzyme inaktiviert werden, dürfte klar sein. Bei allen Erhitzungsarten über 54°C beginnen die Proteine, vor allem das hitzelabile Molkenprotein zu denaturieren. (12) Unerwünschte Molekülabschnitte (Epitope) können entstehen, die bei empfindlichen Menschen eine Milchallergie auslösen können. (13)
Mein HNO sagt immer „Viren und Bakterien regieren die Welt und wir sind nur die Gäste“. Recht hat er, denn wenn man sich überlegt wie viele Bakterien allein auf der Haut und in unserem Darm leben, wird einem -nicht erst seit dem Buch „Darm mit Charm“- bewusst, welche große Rolle diese kleinen Dinger doch spielen. Umso wichtiger ist es den Darm mit guten Milchsäurebakterien aus Rohmilchprodukten zu versorgen und zu unterstützen.
Leider wird der YOPI-Gruppe von Rohmilchprodukten meist abgeraten. YOPI's sind younger - older -pregnant und immunesuppressed people. Gerade diese Gruppe könnte nämlich von den vielen Vorteilen der Rohmilch profitieren. Das Dilemma bleibt leider an den betroffenen Personen selbst hängen, denn Sie müssen entscheiden, ob sie die Vorteilen der Rohmilch mitnehmen möchten, oder ob die Angst vor Krankheiten die möglicherweise über die Rohmilch übertragen werden könnten siegt. (14)
Die Forschung zu Rohmilch beginnt mittlerweile auch in ganz kleinen Schritten. Der Zusammenhang zwischen dem Trinken von Rohmilch im Kleinkindesalter und der Vermeidung von Asthma, Allergien und Heuschnupfen konnte in 10 unterschiedlichen Ländern festgestellt werden. Normalerweise wird Bauernhofkindern ja gerade dieser Schutz vor den Krankheiten nachgesagt. Aber man fand 2011 heraus, dass tatsächlich nur die Bauernhofkinder weniger Probleme mit den Krankheiten hatten, die Rohmilch getrunken hatten. Die Bauernhofkinder die wärmebehandelte Milch aus dem Supermarkt getrunken hatten, konnten nicht von dem Schutz profitieren. Es wird deshalb angenommen, dass die Wärmebehandlung der Punkt ist, der zu den Problemen führt. (15)
Eine Vielzahl an epidemiologischen Studien konnte auch zeigen, dass der Verzehr von Rohmilch und Rohmilchprodukten in der Kindheit vor Nasen-, Ohren- und Atemwegsinfektionen schützt. Rohmilch und dessen Produkte sind an der Prävention von Fettleibigkeit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen beteiligt, sorgen für weniger Durchfall, weniger Verstopfung, eine gesündere Haut, höherer Abwehrkraft und können sogar unsere psychische Gesundheit hin zu einer besseren Stimmung beeinflussen. Der Einfluss darauf und einer guten Darmgesundheit konnte in mehreren Studien gezeigt werden16.
Als Fazit kann ich nur sagen, ich freue mich über jede Milchtankstelle die Rohmilch unproblematisch jedem zur Verfügung stellt. Das ist schließlich in anderen Ländern nicht selbstverständlich und sogar verboten. Wir haben die Möglichkeit und die freie Wahl uns zu informieren und somit die Vor- und Nachteile abwiegen zu können. In meinen Augen überwiegen die Vorteile des Konsums von Rohmilch und Rohmilchprodukten. Das Risiko einer Krankheitsübertragung ist bei guter Hygiene so gering, dass ich sagen kann:
Rohmilch ist für mich ein Superfood.
Michaela B. kommentierte . . .
★★★★☆
also liebe Sabine, das ist interessant geschrieben - ich trinke ja bisher nur Hafermilch, aber deine Argumente pro "Rohmilch" überzeugen mich. Jetzt muss ich nur sehen, wo bringe ich in meinem Berliner Kiez eine Kuh unter und was sagt das Veterinäramt dazu ;-)
QUELLENNACHWEISE
1 Agrarforschung Schweiz 11: S.145-130, 2020 Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit – eine Literaturbesprechung
2 https://www.milkandhealth.com/de/2021/07/24/milchbauern-mit-bester-hygiene/
3 https://www.milchuntersuchung.de/Page60.html
4 Grenzwert der VO (EG) Nr. 853/2004 und zugleich Richtwert des VHM
5 https://www.milchuntersuchung.de/Page60.html
6 https://www.dialog-milch.de/milchlexikon/zellzahl/
7 https://lkv-sh.de/mlp/mlp-ergebnisse-mlp/erlaeuterungen-zum-eutergesundheitsbericht
8 https://www.hofkaese.de/neuigkeiten/details/5577
9 https://www.oekolandbau.de/handel/marketing/sortiment/warenkunde/molkereiprodukte-und-kaese/verarbeitung/waermebehandlung-von-milch/
10 Agrarforschung Schweiz 11: S.145-130, 2020 Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit – eine Literaturbesprechung
11 https://www.milkandhealth.com/faq/#Gesundheitsanspruch
12 https://www.milkandhealth.com/faq/#Gesundheitsanspruch
13 https://www.milkandhealth.com/faq/#Gesundheitsanspruch
14 Agrarforschung Schweiz 11: S.145-130, 2020 Rohmilch und Rohmilchprodukte beeinflussen die menschliche Gesundheit – eine Literaturbesprechung
15 https://www.milkandhealth.com/faq/#Gesundheitsanspruch
16 VHM-Kursunterlagen "Pasteurisieren, Standardisieren, Hr. Rädler